Kann Deutschlands Wasserstoff-Wende noch gerettet werden?
Dass Deutschland nicht aus eigener Kraft seine künftige Versorgung mit grünem Wasserstoff sicherstellen kann, dürfte inzwischen hinlänglich bekannt sein. Nun gibt es hierzu eine neue Studie, die zeigt, wie die Wasserstoffwende der Bundesrepublik trotzdem gelingen könnte. Veröffentlich wurde die Analyse vom Berliner Think Tank Agora Energiewende.
Demnach könnten bereits Mitte der 30er-Jahre circa 60 bis 100 Terawattstunden (TWh) an grünem Wasserstoff aus benachbarten Ländern nach Deutschland importiert werden. Damit ließe sich ein wesentlicher Teil des von der Bundesregierung für 2030 ausgegebenen Wasserstoffziels erreichen, so Agora.
Grüner Wasserstoff: jede Menge Öko-Strom, den Deutschland nicht hat
Hintergrund: Grüner Wasserstoff wird per Wasserelektrolyse und mithilfe von Öko-Strom produziert. In den entsprechenden Anlagen werden – vereinfacht gesagt – Wassermoleküle durch elektrische Energie in ihre Bestandteile Sauerstoff und Wasserstoff aufgespalten. Der entstehende Wasserstoff gilt als besonders klimaschonend und bekommt das Prädikat „grün“. Jener Energieträger kann dann etwa in der Industrie (z.B. Stahlproduktion), im Verkehr (Brennstoffzellen) oder allgemein als Speichermedium für Öko-Strom genutzt werden. Der grüne Wasserstoff gilt daher als wichtiger Hebel zur Dekarbonisierung.
Das Problem: Die Bundesrepublik hat schlicht keine ausreichenden Öko-Stromkapazitäten, um die Wasserstoffversorgung aus eigener Kraft vollumfänglich zu gewährleisten – weder jetzt noch in der Zukunft. Deshalb muss Deutschland auf Wasserstoffimporte aus dem Ausland setzen. Experten schätzen die nötige Importquote auf 50 bis 70 %.
Agora-Studie: Erdgaspipelines zum Wasserstofftransport
Laut Agora eignen sich hierfür besonders die Erdgaspipelines, die in Europa ohnehin in großer Stückzahl vorhanden sind. Die Leitungen können laut den Experten „umgewidmet“ werden, wodurch ein teurer Neubau erspart bliebe. Zunächst sei aber die Politik am Zuge. Die Denkfabrik fordert, dass nun schnell die Weichen für die kommende Infrastruktur gestellt werden müssten. Hierfür brauche es vor allem eine gesicherte Nachfrage.
Heißt: Deutschland müsse eine verlässliche Nachfrageprognose für den eigenen Bedarf abgeben, auf dessen Basis Unternehmen Investitionen tätigen können. Zentral hierfür sind laut Agora weitere staatliche Förderungen aus Berlin und nicht zuletzt eine Beteiligung auch anderer Staaten an den Infrastrukturkosten. Weiterhin fordern die Experten, die bestehenden Klimaschutzverträge in der Industrie auszuweiten. Dadurch soll die ökonomische Dringlichkeit von Dekarbonisierungsprojekten zusätzlich erhöht werden.
Windstrom im Norden, Sonnenstrom im Süden
Zurück zu den Pipelines: Agora analysiert in der Studie fünf mögliche Korridore nach Deutschland. Die wohl vielversprechendsten sind die Pipelineverbindungen mit Dänemark und Norwegen (über die Nordsee) sowie mit Schweden und Finnland (über die Ostsee). Die skandinavischen Länder gelten als Eldorado für erneuerbare Energien, vor allem für die Windkraft. Jene Länder können ihren überschüssigen Öko-Strom zur Produktion von grünem Wasserstoff nutzen und diesen anschließend etwa nach Deutschland transportieren.
Interessant sind laut Agora auch die südlichen EU-Länder wie etwa Spanien und Griechenland, aber auch nordafrikanische Staaten wie Tunesien und Algerien. Dort ist wiederum das Potenzial für Sonnenergie extrem hoch. Hier handelt es sich den Analysten zufolge aber eher um längerfristige Projekte.
Wasserstoff-Derivate wie Ammoniak für den Schiffstransport
Neben den Pipelines gibt es zudem die Möglichkeit, den Import per Schiffstransport zu ergänzen. Hier steht laut der Studie aber nicht Wasserstoff selbst im Fokus, sondern Produkte auf Wasserstoffbasis.
Darunter Eisenschwamm und grüner Ammoniak. Diese chemischen Verbindungen enthalten Wasserstoff, sind aber wesentlich einfacher und kostengünstiger per Schiff zu transportieren als der reine Wasserstoff. Aus dem Eisenschwamm kann grüner Stahl produziert werden und aus dem Ammoniak z.B. klimaschonende Düngemittel.
Mein Fazit für Sie
Ohne Frage: Grüner Wasserstoff ist ein heikles Thema. Die weitreichende Umstellung auf diesen Energieträger kostet viel Geld, wofür im Endeffekt zu einem großen Teil der Steuerzahler zur Kasse gebeten werden soll. Diese Tatsache bietet politischen Sprengstoff, wie sich auch in der kürzlich erfolgten Europawahl gezeigt hat.
Ein Selbstläufer ist die Wasserstoffwende also nicht. Meiner Meinung nach hat der klimaschonende Energieträger trotzdem sehr viel Zukunftspotenzial – und damit auch die entsprechenden Aktien. Wichtig für interessierte Anleger: Der Wasserstoffmarkt hat zuletzt auch wegen der makroökonomischen Hindernisse (v.a. hohe Zinsen) temporär an Geschwindigkeit verloren, ist damit aber längst noch nicht aus dem Rennen. Hierzu eine Prognose der Beratungsgesellschaft KPMG:
Quelle: KPMG (https://kpmg.com/de/de/home/themen/2024/04/gruener-wasserstoff-wird-zum-wichtigen-hebel-nachhaltiger-industrie.html)
Demnach wird der Bedarf in Deutschland erst ab Ende der 20er- bzw. Anfang der 30-Jahre bedeutend anziehen. Diesen Zeithorizont sollten Sie als Anleger auf dem Schirm haben, wenn Sie in entsprechende Aktien investieren und davon nachhaltig profitieren wollen. Bringen Sie also ausreichend Geduld mit.