Brexit: Der harte Cut kommt zeitverzögert

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It’s the final Countdown – und doch ist es ziemlich ruhig geworden um den Brexit. Während im vergangenen Jahr die Newsticker schon Wochen vor einem angestrebten Austrittstermin nicht mehr stillstanden und Liveschalten zu den Parlamentsdebatten in London an der Tagesordnung waren, findet der Brexit in den Schlagzeilen kaum noch statt.

Seit Premier Boris Johnson bei den vorgezogenen Neuwahlen im Dezember eine komfortable Mehrheit erzielen konnte, gilt die Sache als ausgemacht: Am morgigen Freitag wird Großbritannien die Europäische Union verlassen. Selbst erbitterte Gegner des Brexit haben inzwischen resigniert. Was viele vor vier Jahren noch nicht für möglich und allenfalls für einen schlechten Scherz hielten, wird nun Realität.

Der Austritt ist erst der Anfang vom Ende

Doch die Ruhe ist trügerisch. Denn obwohl die Rahmenbedingungen inzwischen durch das EU-Parlament angenommen wurden und die Zustimmung der verbleibenden 27 EU-Staaten als reine Formsache gilt, ist der Problemkomplex rund um den Brexit damit noch lange nicht erledigt – ganz im Gegenteil.

Das böse Erwachen dürfte noch kommen, mit Ankündigung und zeitverzögert, denn bis Ende des Jahres ändert sich erst einmal kaum etwas. So lange gilt eine Übergangsfrist, in der das Vereinigte Königreich in Binnenmarkt und Zollunion verbleibt. Spannend wird es dann allerdings wieder zum Jahreswechsel.

Sämtliche Beobachter halten den Zeitplan von elf Monaten für viel zu ambitioniert. In so kurzer Zeit tragfähige Regeln auszuhandeln, denen der grenzübergreifende Handel künftig unterliegen soll, erscheint utopisch, wenn man bedenkt, wie lang allein um den Austrittsvertrag gerungen wurde oder dass der Weg hin zu einem Freihandelsabkommen mit Kanada satte sieben Jahre in Anspruch genommen hat.

Historische Weichenstellungen

Eine Fristverlängerung wäre logisch, sie wäre auch rechtlich möglich – politisch allerdings ist sie eher unwahrscheinlich, solange Johnson in London das Sagen hat. „Get Brexit done“ war sein Wahlkampfslogan, er will das Thema vom Tisch haben und lieber heute als morgen den Austritt vollziehen – ob mit oder ohne Abkommen, ist dem Premier dabei offenbar erstaunlich egal.

Dabei handelt es sich hier um historische Weichenstellungen, die die wirtschaftliche und damit auch gesellschaftliche und politische Entwicklung des Landes auf Jahrzehnte hin prägen dürften. In der deutschen Wirtschaft sind bereits vor dem Vollzug des Austritts erste Auswirkungen spürbar: Das Exportvolumen deutscher Waren ins Vereinigte Königreich ging in den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres um 4 Prozent oder 3 Milliarden Euro zurück auf 73,6 Milliarden Euro, wie der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) bekanntgab.

Harter Brexit mit Zeitverzögerung?

Angesichts der festgefahrenen Lage in den Verhandlungen dürfte das lediglich ein erster Vorgeschmack sein auf das, was noch kommt. Die britischen Vertreter machen keinen Hehl daraus, dass sie sich hinsichtlich der künftigen Wirtschaftsbeziehungen gern die Rosinen herauspicken würden, die Privilegien des Freihandels behalten, ohne sich dabei europäischen Standards zu unterwerfen – eine Linie, die Brüssel kaum mittragen wird. Eine Lösung ist nicht in Sicht, es droht somit weiterhin ein harter Brexit, also einer komplett ohne Handelsverträge, der Großbritannien von einem Tag auf den anderen zum Drittstaat machen würde – mit allen Konsequenzen.

Darüber hinaus werden die Briten in den kommenden Jahren auch mit inneren Angelegenheiten beschäftigt sein. In Schottland werden Forderungen nach einem erneuten Unabhängigkeitsreferendum wieder lauter, die Grenzfrage zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland ist noch nicht vollständig gelöst und für Regionen wie Gibraltar müssen ebenfalls Lösungen gefunden werden.

Der morgige Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ist vielleicht ausgemachte Sache – vom Tisch ist er damit aber noch lange nicht.