Mehr Inflation, weniger Wachstum – trübe Aussichten für Europa
Das Jahr 2022 ist gerade einmal zur Hälfte überstanden, doch schon jetzt zeichnet sich ab: Es wird wohl in die Wirtschaftsgeschichte eingehen, vor allem in die europäische.
EU-Kommission erwartet Rekordinflation im Euroraum für 2022
Die Inflation im Euroraum dürfte so hoch ausfallen wie nie zuvor seit Bestehen der Gemeinschaftswährung. Die EU-Kommission geht in ihrer jüngsten Schätzung von einer Teuerungsrate von 7,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr aus. Angetrieben wird die Entwicklung vor allem durch höhere Energiepreise in Folge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, aber auch durch nach wie vor gestörte Lieferketten, die durch Maßnahmen wie Corona-Lockdowns in China zusätzlich belastet werden.
Noch im Mai hatte die EU-Kommission lediglich mit einer Inflation für das Gesamtjahr in Höhe von 6,1 Prozent gerechnet. Doch nicht nur für die Währungsunion haben sich die Aussichten eingetrübt. Auch für die gesamte Europäische Union prognostiziert die Kommission eine Inflationsrate von 8,3 Prozent – im Mai hatte sie den Wert noch mit 6,8 Prozent und damit deutlich niedriger beziffert.
Preise dürften noch jahrelang weiter steigen
Auch für das kommende Jahr rechnet die Kommission mit einer weiteren Teuerung, um durchschnittlich 4 Prozent für die Eurozone und 4,6 Prozent in den 27 EU-Staaten insgesamt. Mit einer rückläufigen Wirtschaftsleistung rechnet die EU-Kommission dementgegen bislang nicht. Für das laufende Jahr prognostiziert sie ein Wachstum von 2,7 Prozent für die EU-27 und 2,6 Prozent für den Euroraum. Deutlich schwächer fällt hingegen der Ausblick für 2023 aus: Hier korrigierte die Kommission ihre Vorhersage von 2,3 Prozent auf nur noch 1,5 beziehungsweise 1,4 Prozent. Vor allem die angespannte Lage an den Energiemärkten sorgt demnach für trübere Aussichten.
Weltweit rechnen Ökonomen mit einer hohen Inflation weit über das laufende Jahr hinaus. Auch 2023 und 2024 müssen sich Unternehmen und Verbraucher demnach auf weiter steigende Preise einstellen. Überdurchschnittlich stark betroffen sind dabei vor allem Schwellenländer, die voraussichtlich mit zweistelligen Inflationsraten zu kämpfen haben dürften. Für Europa und Nordamerika gehen die meisten Prognosen dagegen von Inflationsraten unterhalb von 10 Prozent aus.
Notenbanken reagieren mit Straffung ihrer Geldpolitik und höheren Zinsen
Notenbanken reagieren auf die steigenden Preise rund um den Globus mit einer Anhebung der Leitzinsen. Bereits seit März hat die US-Notenbank Federal Reserve den Leitzins in mehreren Schritten angehoben, zuletzt verkündete Kanadas Zentralbank mit einer Anhebung um 1,0 Prozent den größten Zinsschritt seit 1998. Der Europäischen Zentralbank hingegen wird seit Monaten von Ökonomen ein zu zögerliches Vorgehen vorgeworfen. Doch auch die Euroländer müssen sich in der zweiten Jahreshälfte wohl auf höhere Zinsen einstellen.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) befürwortet eine Abkehr von der lockeren Geldpolitik der Notenbanken, die vor allem die Aktienmärkte seit der Finanzkrise angetrieben haben. IWF-Chefin Kristalina Georgiewa verweist auf ein erhöhtes Rezessionsrisiko im laufenden sowie im kommenden Jahr in zahlreichen Ländern. Vor allem die bereits immens gestiegenen Energie- und Rohstoffpreise dürften die Lage demnach weiter verschärfen.
Euro fällt auf Parität zu US-Dollar – erstmals seit 2002
Anstatt aber über ultralockere Geldpolitik der Notenbanken immer weiter Kapital in die Märkte zu pumpen, plädiert der IWF für gezielte, zeitlich begrenzte Maßnahmen der einzelnen Regierungen, um die Folgen der Inflationsdynamik für die Menschen individuell abzufedern.
Unterdessen gerät der Euro weiter unter Druck: Zum ersten Mal seit 2002 fiel die Gemeinschaftswährung Anfang der Woche auf Parität zum US-Dollar – und zeitweise sogar darunter. Rezessionsängste und das bislang zögerliche Agieren der EZB im Hinblick auf das Leitzinsniveau belasten den Euro und könnten zu ungekannten Wechselkurseffekten in den Bilanzen international agierender Konzerne führen.