Brexit: Ratlos wie 2016

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Wie ein Damoklesschwert hängt er seit Monaten über Europa – und auch über den Märkten: der Brexit. Kommt er nun oder nicht, und wenn ja, wann und unter welchen Rahmenbedingungen?

Was eigentlich für Ende März geplant war, zieht sich nun bis Ende Oktober. Mindestens. Doch bis dahin kann noch viel passieren, das haben die vergangenen Wochen eindrucksvoll gezeigt. Premierminister Boris Johnson, der den Brexit um jeden Preis zum 31. Oktober vollziehen will, befindet sich auf einem nie dagewesenen Konfrontationskurs mit dem Parlament und seiner eigenen Partei.

Daily Drama im Brexit-Land

In der kommenden Woche wird gerichtlich darüber verhandelt, ob die von Johnson angeordnete fünfwöchige Zwangspause für das Parlament rechtens ist oder nicht – angesichts der fehlenden schriftlichen Verfassung des Vereinigten Königreichs eine heikle Abwägung mit weitreichenden Folgen, egal wie die Entscheidung letztlich ausfallen wird.

Auf dem Kontinent herrscht derweil eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Faszination. Kopfschüttelnd wird aus der Ferne das Schauspiel in London beobachtet, wohlwissend, dass die Konsequenzen des Brexit auch im restlichen Europa deutlich zu spüren sein werden.

Schwarzer Peter nach Brüssel?

Mit Blick auf Brüssel spielt Johnson auf Zeit. Sollte die EU einlenken und sich zu Nachverhandlungen zum bisherigen Deal bereiterklären, hätte er gewonnen. Doch danach sieht es derzeit nicht aus. Stattdessen betonen die Regierungschefs und Verhandlungsführer in Brüssel unisono und zunehmend genervt, dass der beste Deal bereits auf dem Tisch liege und nicht mehr aufgeschnürt werde. Bleiben sie hart, könnte Johnson den No-Deal-Brexit durchziehen und mit dem Finger in Richtung Europa zeigen nach dem Motto: Ich wollte verhandeln, aber Brüssel hat sich geweigert, deswegen ist die EU nun Schuld am harten Brexit.

Zunächst bleibt aber abzuwarten, ob Johnson bis Ende Oktober überhaupt noch im Amt ist. Auch Neuwahlen stehen zur Debatte, und sollte das Parlament qua Gerichtsbeschluss bereits schneller wieder zusammentreten als gedacht, dürften auch hier weitere hitzige Auseinandersetzungen folgen.

Weitreichende Auswirkungen eines No-Deal-Brexit

Einen Teilerfolg konnten die Gegner des No-Deal-Brexit bereits erringen. Die Regierung wurde gezwungen, interne Papiere zu veröffentlichen. Aus diesen geht hervor, dass man sich in London sehr wohl bewusst ist über die schwerwiegenden Risiken, die mit dem harten EU-Austritt verbunden wären. Demnach rechnet die Regierung mit Lieferengpässen, etwa bei Medikamenten oder Lebensmitteln, und sieht die Gefahr öffentlicher Unruhen.

Die verschärften Grenzkontrollen für den Personen- und Güterverkehr dürften auf beiden Seiten der Grenze zu Problemen führen. Tatsächlich ist es aus Sicht von Unternehmen kaum möglich, sich sinnvoll auf den Brexit vorzubereiten, da nach wie vor völlig unklar ist, welche Regeln im Anschluss gelten werden.

Mehr als drei Jahre nach dem Referendum und nach all den langwierigen Verhandlungen zwischen Brüssel und London ist man noch genauso ratlos wie an jenem Junitag 2016, als die Briten für den EU-Austritt votierten. Und auch wenn politische Börsen bekanntlich kurze Beine haben, dürfte der Brexit diesbezüglich eine Ausnahme bilden. Reaktionen auf tagesaktuelle Entwicklungen dürften zwar eher kurzfristig wirken, doch wenn es tatsächlich zum Brexit kommt, werden dessen Folgen auf lange Sicht spürbar bleiben – gerade auch an den Finanzmärkten, deren wichtigster europäischer Schauplatz sich von London nach Paris und Frankfurt verlagern dürfte.