Brexit-Folgen: Bilaterales Abkommen mit USA rückt in weite Ferne
Als eine knappe Mehrheit der Briten vor etwas mehr als fünf Jahren für einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union votierte, geschah dies nicht zuletzt aus einem alten Nationalstolz heraus. Immerhin war das Königreich mal ein weltweit führendes, wirtschaftlich überaus bedeutsames Empire gewesen.
Doch diese Zeiten sind vorbei, und das müssen die Briten dieser Tage umso schmerzlicher feststellen. Ohne den Hemmschuh der EU werde die Wirtschaft florieren, Großbritannien werde eigene, viel bessere bilaterale Handelsabkommen schließen können, die den eigenen Interessen mehr entsprechen, das war eines der zentralen Versprechen der Brexiteers, also der Befürworter des EU-Austritts, seinerzeit während der Kampagne.
Verhandlungen über Freihandelsabkommen mit USA stocken
Die Realität sieht anders aus. Aktuelles Beispiel: Das Bemühen um ein bilaterales Handelsabkommen mit den USA. Hatte Ex-Präsident Donald Trump noch eine zügige Übereinkunft in Aussicht gestellt, hat das Thema aus Sicht der nun in Washington regierenden Biden-Administration keine Priorität.
Zwar befinden sich die Unterhändler beider Länder in Gesprächen, doch ob es innerhalb der kommenden drei Jahre zu einer Vertragsunterzeichnung kommen werde, darauf wollte sich zumindest Großbritanniens Premier Boris Johnson zuletzt nicht mehr festlegen.
„Großbritannien hat keine Priorität“
Stattdessen erwägt man in London nun offenbar, dem seit 2020 bestehenden Freihandelsabkommen USMCA beizutreten, das den Handel zwischen den Vereinigten Staaten und seinen direkten Nachbarn Kanada und Mexiko regelt.
Unterdessen nannten Vertreter der US-Seite zuletzt auch einen klaren Grund dafür, warum das Thema aus ihrer Sicht keine große Priorität genießt: Während man mit Kanada und Mexiko rund 30 Prozent seines Handels vollziehe, trägt der Warenaustausch zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien gerade einmal 2,5 Prozent zum US-Handelsvolumen bei. Damit befinde sich das Königreich in seiner wirtschaftlichen Bedeutung für die USA auf derselben Stufe wie etwa Taiwan oder Vietnam.
Imagedesaster für Johnson-Lager
Ein solcher Hinweis ist ein harter Schlag in die Magengrube für die stolzen Brexiteers, die zumindest nach außen hin lange die Auffassung vertreten hatten, man könne auch ohne die EU eine nennenswerte Rolle spielen im weltweiten Handel und entsprechend gute Konditionen für bilaterale Abkommen ausloten.
Danach sieht es bislang allerdings nicht aus. Scheitert nun sogar das angestrebte Abkommen mit den USA, die den Briten stets als besonders enger Partner galten, wäre das Imagedesaster für Johnson und sein ultrakonservatives Lager kaum zu übertreffen.
Brandbrief der Verbände: Supermärkte warnen vor leeren Regalen zu Weihnachten
Zudem bekommen die Briten die Folgen des Brexits zunehmend nicht nur auf internationaler Bühne zu spüren, sondern auch beim Blick ins eigene Supermarktregal. Da die Begrenzung und Erschwernis der Einwanderung insbesondere osteuropäischer Arbeitskräfte ein erklärtes Ziel der Brexiteers war, haben zahlreiche Speditionen des Landes nun Schwierigkeiten, genügend Lkw-Fahrer zu finden. Empfindliche Störungen in den Lieferketten machen sich seit Monaten bemerkbar.
Branchenverbände aus Lebensmittel- und Einzelhandel schlagen nun erneut Alarm und warnen vor einer Verzehnfachung der bisherigen Probleme in den kommenden Monaten. Mögliche Hamsterkäufe in der Vorweihnachtszeit könnten die Versorgungsengpässe demnach noch zusätzlich verschärfen.
Gaspreise um 250 Prozent gestiegen
Auch die Gaspreise haben für britische Verbraucher deutlich stärker zugelegt als hierzulande, wo ebenfalls ein deutlicher Anstieg seit Beginn des Jahres zu verzeichnen ist. Verglichen mit den Teuerungsraten im Königreich können sich die Preissteigerungen hierzulande, die sich im zweistelligen Prozentbereich bewegen, allerdings noch sehen lassen: Briten zahlen mittlerweile 250 Prozent mehr für ihren Gasbedarf, und der Winter hat noch nicht einmal begonnen.
Knapp ein Jahr nach dem finalen Austritt Großbritanniens nicht nur aus der EU, sondern auch aus dessen Binnenmarkt, droht ein äußerst ungemütlicher Herbst für die Briten und ihren Premierminister.