Shell: Wie der Ölkonzern den Drahtseilakt wagt
Inzwischen ist es zu einer Tradition geworden. Jedes Jahr während der Hauptversammlung des Ölkonzerns Shell finden sich vor dem Veranstaltungsgelände in London einige Demonstranten ein, die dem Unternehmen schwere Vorwürfe machen: „shut down Shell“, „Shell profits kill“ und „your greed is killing humanity“ waren dieses Jahr einige der dramatischeren Formulierungen, die die Protestanten auf großen Bannern der Öffentlichkeit präsentierten.
Im Mittelpunkt des Protests steht, sie werden es schon ahnen, der Klimaschutz. Tatsächlich war Shell in den letzten Jahrzehnten einer der größten CO2-Emittenten der Welt, wie Sie in der folgenden Grafik sehen können:
Quelle: The Guardian (https://www.theguardian.com/environment/2019/oct/09/revealed-20-firms-third-carbon-emissions)
Shell war demnach zwischen 1965 und 2017 mit einem Ausstoß von 31,95 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalent das Unternehmen mit den siebthöchsten Emissionen. Inzwischen hat sich die jährliche Klimabilanz des Konzerns zwar etwas verbessert. Trotzdem war Shell im letzten Jahr noch für mehr als 50 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent verantwortlich (Scope 1 und 2).
Shell-Hauptversammlung: Aktivistische Investoren laufen Sturm
Die Klimaschützer jedenfalls kritisieren das Management ob dieser immer noch sehr hohen Emissionen. Doch es sind längst nicht mehr nur Aktivisten und politische Idealisten, die die Konzernführung in die Kritik nehmen. Wesentlich gefährlicher für das Management sind einige Investoren, die inzwischen ebenfalls Widerstand leisten. So geschehen auch auf der Hauptversammlung am letzten Dienstag.
Im Vorfeld hatte eine Aktionärsgruppe unter Führung des aktivistischen Investors Follow This eine Resolution angekündigt, um das Management zu einem härteren Klimakurs zu zwingen. Demnach solle Shell seine mittelfristigen CO2-Ziele an das Pariser Klimaabkommen anpassen – inklusive konkreter Ziele bezüglich der Scope-3-Emissionen, die mit rund 1,15 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalent etwa 95 % der Shell-Klimabilanz ausmachen.
Dabei handelt es sich um die Ausstöße, die von Dritten mit den Produkten von Shell emittiert werden. Heißt: In der Scope-3-Kategorie sind auch jene CO2-Emissionen inkludiert, die zum Beispiel ein Autofahrer mit Kraftstoffen des Konzerns verursacht. Big Oil hält sich aus verständlichen Gründen bis dato bei der Festlegung konkreter Scope-3-Ziele zurück. Denn: Unternehmen wie Shell müssten dann darauf achten, nicht zu viel ihrer fossilen Produkte zu verkaufen. Da das Gesamtgeschäft des Konzerns nach wie vor allem von Öl und Gas abhängig ist, wäre eine solche Festlegung mit erheblichen Absatzrisiken verbunden, die Shell im Worst Case massiv verzwergen würden.
Resolution abgelehnt: CEO Sawan zeigt sich zufrieden
Kein Wunder also, dass das Management die restlichen Investoren eindringlich dazu aufgerufen hatte, die Forderung der aktivistischen Aktionäre unter Follow This auch dieses Jahr abzulehnen. Kurzum: Das Ansinnen wurde am Dienstag abermals abgeschmettert. Auf der jüngsten Hauptversammlung hat die Resolution nur 18,6 % Unterstützung erhalten und damit noch einmal 1,4 Prozentpunkte weniger als 2023. Follow This bringt die Forderung seit 2016 alljährlich zur Abstimmung.
Die höchste Zustimmungsquote wurde bisher 2021 erzielt – mit damals rund 30 %. 2021 hatte ein spektakuläres Urteil eines niederländischen Gerichts für Furore gesorgt, das Shell zu mehr CO2-Senkungen verpflichtet hatte und aktuell in der Berufung ist.
Vorstandschef Wael Sawan, der Shell seit Anfang 2023 als CEO führt, zeigte sich nun zufrieden mit den Ergebnissen der Hauptversammlung. Der Manager betonte das „wachsende Vertrauen“ in die Energiewendestrategie des Ölmultis, die übrigens mit rund 78 % Zustimmung abgesegnet wurde.
Tatsächlich hatte Sawan erst kürzlich einige Klimaziele des Ölkonzerns abgespeckt. Demnach soll Shell bis 2030 die Nettokohlenstoffintensität seiner Energieprodukte um -15 bis -20 % senken. Zuvor hatte das Management hier noch fest -20 % in Aussicht gestellt. Eine fallende Nettokohlenstoffintensität bedeutet grundsätzlich, dass das Unternehmen die Produktion von Erdgas und Erdöl steigern und die dadurch höheren Emissionen zum Beispiel durch Erneuerbare Energien oder Biokraftstoffe im Produktmix kompensieren kann. Apropos Erdgas: Sawan sieht in dem fossilen Rohstoff und insbesondere in der flüssigen Form (LNG) einen extrem wichtigen Wachstumsmarkt, weshalb Shell hier ordentlich Kapazitäten zubauen will.
Interessant ist auch, dass der Konzern seine Nettointensitäts-Ziele bis 2035 erst einmal komplett gestrichen hat. Diese seien wirtschaftlich „gefährlich“, auch wegen der aktuellen Unsicherheiten bezüglich der Energiewende, so Sawan in einem Interview im März. Vielmehr wolle man sich auf einen näheren Zeitraum konzentrieren.
Amerikaner stemmen sich gegen Energiewende: Shell unter Zugzwang
Bei Aktionären wie Follow This kam diese Ankündigung freilich alles andere als gut an. Die aktivistischen Investoren befürchten, dass Shell dadurch seine Zukunftsfähigkeit aufs Spiel setze – auch aus ökonomischer Perspektive.
Beobachter sehen in der Strategie des Managements derweil eine Antwort auf die Big Player aus den USA. Konzerne wie ExxonMobil und Chevron hatten unlängst neue Milliardeninvestitionen in Ölprojekte angekündigt und sich in Sachen Erneuerbarer Energien sehr zurückhaltend gezeigt. Allenfalls die CO2-Abscheidung wird von den US-Giganten derzeit als mögliche Dekarbonisierungslösung forciert. Die Folge: Die Amerikaner wachsen dank der aktuell lukrativen fossilen Rohstoffe nicht nur sehr schneller, sondern sind auch gewinnträchtiger.
Die Europäer sehen sich deshalb unter Zugzwang, ihre Attraktivität für Investoren aufrechtzuerhalten. Dabei geht es vor allem um die geldstarken großen Pensionsfonds. Dafür spricht, dass Shell die Milliardengewinne der letzten beiden Jahre vor allem für Aktionärsbelohnungen ausgibt, also für umfangreiche Dividenden und Aktienrückkaufprogramme.
Das Dilemma: Dadurch verkleinert sich der Spielraum für Investitionen in Assets der Energiewende. Eben diese Stärkung kurzfristiger und im Prinzip ideenloser Kursimpulse (Investitionen in Aktionärsbelohnungen) zulasten der langfristigen Perspektive (Investitionen in Technologien der Energiewende) ist der Hauptkritikpunkt von Investoren wie Follow This.
Mein Fazit für Sie
Auch wenn die Hauptversammlung das Klima-Ansinnen der Investorengruppe um Follow This abgelehnt hat: Das Dilemma rund um die Transformation ist damit nicht gelöst. Auf der einen Seite agiert das Management ökonomisch vernünftig, indem es die fossilen Rohstoffe und insbesondere Erdgas weiterhin verstärkt berücksichtigen will. Schließlich ist das fossile Zeitalter noch längst nicht am Ende, da die Erneuerbaren Energien sowie die Elektrifizierung wichtiger Industrieprozesse allenfalls am Anfang stehen. Die Welt braucht also weiterhin Öl und Gas, um Wirtschaftswachstum zu erzielen.
Auf der anderen Seite agiert Shell mit seinem unbedingten Drang zu Dividendenerhöhungen und Aktienrückkaufprogrammen meiner Meinung nach wenig inspiriert. Vielmehr bräuchte der Konzern jetzt einen glaubhaften Game-Changer, der Ökonomie und Ökologie sinnvoll zusammenbringt und der Aktie neue Fantasie verschaffen würde.