Europa-Aktien – Gewinne durch die Decke, Kurse in den Keller

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Selten zuvor haben die Gewinne der europäischen Unternehmen so stark positiv überrascht wie im ersten Quartal 2022 (Q1). Aber die Anleger jucken die unerwartet großen Ertragssprünge wenig. Im Gegenteil, die Kurse sind gleichzeitig kräftig gefallen.

Stoxx Europa 600 als Barometer

Am besten lässt sich die Gewinnentwicklung auf dem Alten Kontinent anhand des breiten Index Stoxx Europe 600 ablesen. Zu Beginn der Berichtssaison vor ziemlich genau einem Monat hatten die vom Datenanbieter Refinitiv I/B/E/S erfassten Analystenschätzungen einen durchschnittlichen Gewinnanstieg gegenüber dem Vorjahr der jeweils 200 großen, mittleren und kleinen europäischen Aktiengesellschaften um rund 20 % ergeben. Am 10. Mai, bei der jüngsten wöchentlichen Erhebung, sind die Prognosen auf ein Plus von über 42 % geschnellt, also auf mehr als das Doppelte. Die Unternehmen haben klotzig verdient.

71 % der Unternehmen des Stoxx Europe 600 haben positiv überrascht

Von den bis zum 10. Mai vorgelegten 183 Quartalszahlen hatten 71 % die Schätzungen übertroffen – zum Teil deutlich. Seither sind noch zahlreiche weitere Gewinnüberraschungen hinzugekommen. Vor allem bei den Rohstoff-, Energie- und Konsumunternehmen sind die Erträge nur so gesprudelt.

Dennoch: Was normalerweise zu kräftigen Kursgewinnen führt, hatte diesmal eher den umgekehrten Effekt. Seit dem Beginn der Berichtssaison vor einem Monat hat der Stoxx Europe 600 Index um rund 6 % nachgegeben. Da nach der Theorie die Ergebnisschätzungen eine der wichtigsten Grundlagen für die Aktienentwicklung sind, hätten die Kurse eigentlich parallel zu den Gewinnen durch die Decke gehen müssen. Denn die Bewertung ist dadurch deutlich günstiger geworden.

Manche Experten gehen davon aus, dass ohne die deutlichen Gewinnüberraschungen die Kurse noch stärker gefallen wären. Sie verweisen auf das Beispiel des Nasdaq 100, der in der gleichen Zeit mit minus 14 % mehr als doppelt so viel eingebüßt hat. In den USA waren die Gewinnüberraschungen weniger ausgeprägt und das Ertragsplus mit 10 % deutlich geringer als in Europa.

Sind die besten Gewinnzeiten vorbei?

Eine andere Erklärung sieht den Grund vor allem in den sich verschlechternden Konjunktur-, Inflations- und Zinserwartungen. Deshalb sei anzunehmen, dass die Ergebnisse in Q1 die Spitze des Gewinnbergs sei, der sich seit Mitte 2020 nach dem ersten Corona-Schreck aufgetürmt hatte.

Viele Anleger gehen nun offensichtlich von einem heftigen Konjunkturrückschlag aus, der sogar in eine Rezession münden könnte. Und dann wären die Unternehmensgewinne des Auftaktquartals 2022 tatsächlich nur noch Erinnerungen an bessere Zeiten. Denn die Börsen schauen nun einmal weit voraus und so gut wie nie in den Rückspiegel.