Start-ups bekommen deutlich weniger Risikokapital

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Deutschland gilt seit jeher nicht als besonders gründerfreundliches Land. Abgesehen von einer kurzen Ära nach dem Zweiten Weltkrieg und der Entstehungsphase des Privatfernsehens in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren war und ist es hierzulande schwer, wirklich Neues zu schaffen. Eine nennenswerte Start-up-Kultur hat sich lediglich in den wenigen Metropolen des Landes entwickelt, Berlin steht hier üblicherweise ganz oben auf der Liste. Doch auch dort wird das Klima für junge Unternehmen zunehmend rauer.

Ist der Boom schon vorbei?

Während der Pandemie gab es einen kurzzeitigen Start-up-Boom: Vor allem im Bereich der digitalen Dienstleistungen entstanden viele neue Ideen und Firmen, die auch ein beachtliches Kapital von Investoren einwerben konnten. Im Rekordjahr 2021 flossen rund 17,4 Milliarden Euro in die deutsche Start-up-Szene. Im vergangenen Jahr waren es mit 9,9 Milliarden Euro satte 43 Prozent weniger. Das geht aus Berechnungen der Beratungsgesellschaft EY hervor.

Der Trend beschränkt sich nicht allein auf Deutschland: Europäische Start-ups konnten im Jahr 2021 noch mehr als 100 Milliarden Euro einwerben, in 2022 ging die Gesamtsumme auf etwa 85 Milliarden Euro zurück. Während nach Deutschland knapp 10 Milliarden Euro flossen, gingen etwas unter 20 Milliarden Euro nach Frankreich und rund 30 Milliarden Euro nach Großbritannien. Ähnlich wie Berlin haben sich auch dort vor allem die Hauptstädte Paris und London als Hotspots der Start-up-Szene etabliert. Sechs der zehn größten Investitionsrunden in Deutschland gingen nach Berlin.

Großinvestitionen nahezu halbiert

Rückläufig entwickelten sich zuletzt vor allem Großinvestitionen von mehr als 50 Millionen Euro, ihre Zahl hat sich in Deutschland nahezu halbiert von 72 im Jahr 2021 auf nur noch 37 im vergangenen Jahr. Etwas zugelegt haben dagegen die Finanzierungen zwischen 5 und 50 Millionen Euro: Entsprechende Investments gab es 2022 insgesamt 246 Mal, nach 228 Abschlüssen im Vorjahr. Insgesamt 390 Finanzierungsrunden entfielen auf Start-ups in Berlin. Die Hauptstadt ist damit weiterhin unangefochtener Spitzenreiter in Deutschland, was die Gründerszene angeht.

Die rückläufige Risikobereitschaft der Kapitalgeber führen die Experten auf verschiedene Faktoren zurück, die jedoch miteinander verknüpft sind: Ukrainekrieg, Inflation und steigende Zinsen schmälern die Investitionsbereitschaft und lenken den Blick stärker auf tatsächliche Profitabilität. Heißt im Umkehrschluss: Jungunternehmen, deren Idee große Chancen hat, zeitnah Profite zu erwirtschaften, haben eine deutlich höhere Chance auf Investorengelder als solche, deren Geschäftsidee eher als Wagnis wahrgenommen wird.

Gründer scheitern an deutscher Mentalität

Es ist aber nicht nur eine Frage des Kapitals, warum die Gründerszene in Deutschland schwächer ausgeprägt ist als in anderen Ländern Europas oder auch den USA, wo immer wieder neue Unternehmen wie Pilze aus dem Boden sprießen und manche ebenso schnell wieder verschwinden, während sich andere durchsetzen können.

Hierzulande herrscht zum einen eine insgesamt geringere Risikobereitschaft, wenn es um Geldgeschäfte geht. Viele Deutsche verzichten auf Rendite zugunsten einer stärkeren Absicherung ihrer Kapitalanlagen – was dem Risikoinvestment in ein Start-up offensichtlich zuwiderläuft. Hinzu kommt die Mentalität: Wer einmal mit einer Unternehmensidee antritt und scheitert, wird dieses Stigma oftmals lange nicht mehr los.

Während anderswo eine Stehaufmännchen-Mentalität im Bereich der Unternehmensgründung gelebt wird und man nach einer gescheiterten Idee eben eine neue an den Start bringt, hat man in Deutschland oftmals nur eine einzige Chance. Schlägt diese fehl, werden sich Investoren künftig schwertun, erneut Geld bereitzustellen.

Frische Ideen braucht das Land

Dabei wäre es gerade jetzt wichtig, frische Ideen zu etablieren und neue Unternehmen entstehen zu lassen. Die Industrie, auf der Deutschlands Wohlstand weitgehend beruht, steht vor tiefgreifenden Umbrüchen – Klimaschutz, Verkehrswende und Co. stellen das hiesige Wirtschaftsmodell in den kommenden beiden Jahrzehnten vor extreme Herausforderungen.

Jungunternehmer abzuschrecken anstatt sie zu unterstützen scheint dabei genau der falsche Weg zu sein. Ein Hoffnungsschimmer immerhin: Laut den Zahlen von EY ist das Jahr 2022 immer noch das zweitstärkste seit Beginn der Erhebung im Jahr 2015. Es wird also nach wie vor in junge Unternehmen investiert, selbst in Krisenzeiten.