Konjunktur in Deutschland: Doch schlimmer als befürchtet?
Es ist die Frage der Fragen, die Sie sich als Anleger bestimmt auch stellen: Sind die beeindruckenden Kursgewinne an der Börse seit Herbst 2022 nachhaltig oder nur ein Anflug von vorübergehender Euphorie?
Schließlich hat zum Beispiel der Dax zwischen Anfang Oktober 2022 und dem 19. Mai 2023 um rund 36 Prozent zugelegt, wie Sie im Chart sehen können (Stand: 19.05.2023, 12:00 Uhr).
Der Dax notierte damit Mitte Mai in etwa wieder auf dem Niveau von vor dem Ukraine-Krieg. Selbst die hochsymbolische 16.000-Punkte-Schwelle konnte der Leitindex kürzlich wieder knacken.
Deutsche Konjunktur: IWF sieht nur marginalen Aufschwung
Im ersten Quartal jedenfalls haben sich viele der Dax-Konzerne trotz makroökonomischer Probleme behauptet und teilweise Milliardengewinne eingefahren. Doch über den Berg ist die deutsche Wirtschaft damit noch lange nicht. Entscheidend wird sein, wie sich die Konjunktur im Umfeld der immer noch hohen Inflation und der gestiegenen Leitzinsen weiterentwickeln wird.
Das Problem: In den letzten Tagen gab es hierzu eher wieder pessimistischere Signale. So hat der Internationale Währungsfonds (IWF) kürzlich für Deutschland zwar keine Rezession für 2023 vorausgesagt, jedoch in etwa ein stagnierendes Wachstum. Und auch in den Folgejahren 2024 bis 2026 dürfte das Wachstum der deutschen Wirtschaft demnach eher moderat ausfallen.
Die Experten des IWF begründen das zum einen mit den kurzfristigen Belastungen durch die hohen Energiepreise und auf langfristige Sicht mit der alternden Bevölkerung, fehlenden Produktionsinvestitionen und Engpässen auf dem Arbeitsmarkt.
ZEW-Umfrage: Analysten deutlich weniger zuversichtlich
Dass Deutschland 2023 knapp an einer Rezession vorbeischrammen wird, ist allerdings längst nicht mehr eine einheitliche Meinung. Auch das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hat kürzlich eine neue Studie veröffentlicht und darin auf den Alarmknopf gedrückt.
Hintergrund: Das ZEW befragt monatlich Hunderte Finanzexperten aus Banken, Versicherungen und großen Industriekonzernen nach ihren Einschätzungen und Erwartungen bezüglich der Konjunktur.
Die Ergebnisse der neusten Umfrage jedenfalls lassen erneut Sorgen aufkommen. Demnach haben die Analysten ihre Konjunkturerwartungen für die deutsche Wirtschaft im Mai den dritten Monat in Folge gedrosselt. Konkret fiel der ZEW-Konjunkturindex zu den kommenden sechs Monaten um 14,8 auf -10,7 Punkte. Zum ersten Mal seit Dezember 2022 liegt der Indikator also wieder im negativen Bereich. Und auch die Einschätzung zur aktuellen konjunkturellen Lage in Deutschland ging zurück, um 2,4 auf -34,8 Punkte.
Rezession light?
Ein Grund für den nun pessimistischeren Ausblick ist laut ZEW der noch stärkere Anstieg der Zinsen durch die EZB. Die deutsche Wirtschaft könnte dadurch tatsächlich in eine Rezession rutschen – wenn auch in eine leichte, so die Experten.
Ende April hatten die vom ZEW befragten Analysten für die deutsche Wirtschaft noch einen Aufschwung ab dem zweiten Quartal prognostiziert. Dieser scheint nun erst einmal vom Tisch zu sein.
Mein Fazit für Sie
Der Pessimismus ist also zurück. Das könnte den Dax durchaus unter Druck setzen, zumindest aber weitere Kurssteigerungen erst einmal erschweren. Als Anleger sollten Sie jetzt trotzdem nicht in Panik verfallen.
Gerade viele Dax-Konzerne verfügen über starke finanzielle Polster, um die Konjunkturdellen abzufedern. Hinzu kommt, dass einige der großen deutschen Börsenkonzerne bei weitem nicht so stark vom Geschäft in Deutschland abhängig sind, wie allgemein angenommen wird.
Schauen Sie: Laut einer Analyse der Unternehmensberatung Ernst & Young (EY) haben die Dax-Konzerne im letzten Jahr ihre Umsätze in den USA um 23 Prozent gesteigert – und damit so stark wie in keinem anderen Markt. Die USA werden demnach nicht nur als Absatzmarkt immer attraktiver, sondern auch als Produktionsstandort. Vor allem das mächtige Subventionspaket „Inflation Reduction Act“ sorgt offenbar dafür, dass einige deutsche Großkonzerne ihr Engagement zunehmend in die USA verlagern.
Ein Beispiel ist der deutsche Technologiegigant Siemens. Dieser hatte erst im März eine 220 Millionen US-Dollar schwere Investition in den Bau einer Fabrik zur Produktion von Zügen in North Carolina angekündigt. Siemens will damit von den ambitionierten Infrastrukturplänen des Weißen Hauses profitieren. Allgemein ist Siemens sehr stark in den USA engagiert. Das ist ein Grund, warum der Konzern kürzlich überraschend gute Quartalszahlen melden und seine Prognose erhöhen konnte.
Auf andere Märkte auszuweichen, ist natürlich eine Fähigkeit, die vor allem den großen Playern vorbehalten ist. Kleinere und mittlere deutsche Unternehmen hingegen können bei weitem nicht so einfach expandieren, weshalb diese Firmen insgesamt wesentlich stärker von den Konjunkturproblemen in Deutschland betroffen sind. Viele Experten erwarten deshalb, dass sich die Schere zwischen Konzernen und dem Mittelstand weiter öffnen wird.